Buchbesprechung

Bild: Privat

Bernhard Kirchgessner, beGEISTert von GOTT
Bernardus-Verlag, Aachen 2023, 15,00 €

ISBN-13: 978-3-8107-0378-1

 

Wie kann man heute Menschen für Gott begeistern? Was könnten Anzeichen dafür sein, dass ein Mensch heute bemüht ist, den Ruf Gottes zu hören? Wie kann dieser Ruf erkannt, wie vernommen werden? Wie könnte die Antwort des Menschen auf diesen Ruf Gottes aussehen? Wie würde sich wohl ein solches Unterwegssein mit Gott spirituell gestalten und welche Wegmarken hätte es?

Auf der Suche nach Antworten entwirft der Autor Bernhard Kirchgessner in seiner ca. 80-seitigen Kleinschrift beGEISTert von GOTT eine Art Reisebericht zu Gott in Form eines Dialogs. Und dass es für die Beantwortung dieser Fragen eines Experten bedarf, liegt auf der Hand. Das äußerte schon der Hl. Bernhard von Clairvaux (1090−1153). Als „Expertus“ verstand dieser aber weniger den, der sich dazu Wissen angelesen hat, sondern denjenigen, der hier aus einer persönlichen Erfahrung schöpfen kann (7). Das passt zum Diktum von Papst Paul VI., dass der heutige Mensch lieber auf Zeugen als auf Gelehrte höre bzw. wenn doch auf Gelehrte, dann nur, weil sie selbst Zeugen seien (65). So empfiehlt der Bernhard von Clairvaux-Fachmann Kirchgessner eben diesen mittelalterlichen Experten, der seine Begeisterung mit möglichst vielen teilen will, als Gefährten für den heute fragenden und suchenden Menschen auf dem Weg hin zu Gott, „der allein vollkommenes Glück, wahrer Friede [und] wertvollstes Gut ist“ (13).

Damit geht es in dieser Publikation also nicht um die historische Person Bernhard von Clairvaux selbst, als die er sich in der Einleitung kurz vorstellt, sondern um dessen Erfahrungen, von denen sich der Suchende und Lesende anspornen lassen soll. Bernhard Kirchgessner tritt gleichsam hinter die Person seines historischen Namensvetters zurück, spricht durch ihn und legt dem mittelalterlichen Mystiker zuweilen auch „moderne“ Zitate (wie im Folgenden gezeigt) in den Mund.

Somit wurzelt beGEISTert von GOTT nicht ausschließlich in den Schriften Bernhards von Clairvaux, sondern auch in den geistlichen Wegerfahrungen Bernhard Kirchgessners, dem Leiter des Passauer Exerzitien- und Bildungshauses „Spectrum Kirche“ auf Mariahilf, dem Leiter des Diözesanen Zentrums für Liturgische Bildung (DZLB) und der KünstlerSeelsorge der Diözese Passau sowie dem Dozenten eben für Leben und Werk des Bernhard von Clairvaux im Rahmen der monastischen Ordensstudien an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Papst Benedikt XVI. Heiligenkreuz. Letzteres zeigt sich u. a. darin, dass wie eben schon erwähnt Aussagen anderer großer Persönlichkeiten der Spiritualitätsgeschichte bis in die Gegenwart hinein wie z. B. Augustinus (45, 70), Theresa von Avila (15), Abt Aelred (25, 37, 109), Josef Ratzinger/Papst Benedikt XVI. (29, 31, 34, 75, 61, 62, 68, 72), Wilhelm von Saint Thiery (47, 57, 69, 73), Meister Eckhard (102), Papst Paul VI. (65), Papst Franziskus (65), Mechthild von Magdeburg (72) oder Thomas von Aquin (76) sowie ausgewählte Gleichnisse aus den Evangelien oder biblische Querverweise deutend homogen eingeflochten sind. Damit präsentiert sich Bernhard Kirchgessner nicht nur als ein in Spiritualität gelehrter Autor, der seinem Namenspatron authentisch die Stimme leiht, sondern selbst als Zeuge, dem man glauben kann.

Ganz nach dem Vorbild der – wie Kirchgessner es selbst einmal schilderte – Gespräche zwischen dem Franziskaner William von Baskerville und seinem Adlatus, dem Novizen Adson von Melk, in Umberto Ecos Der Name der Rose entspannt sich in beGEISTert von GOTT ein fiktives Weggespräch zwischen Bernhard (bzw. den Bernhards) und dem Leser in Du-Anrede: ein fiktiver Meister-Schüler- bzw. Experte-Suchender-Dialog, der die Fragen des Lesers aufnimmt.

Der Weg als Symbol für Spiritualität

Diesem „Expertengespräch“ liegt das Bild des Weges zugrunde, das der konkreten menschlichen Erfahrungswelt entstammt. Bereits in der Bibel findet sich dieses Motiv in unterschiedlichen Teilaspekten über 800 Mal. Das Beschreiten des Weges stellt ein Urbild des Glaubens dar. So zieht sich dieses geistliche Symbol durch die gesamte Spiritualitätsgeschichte und steht zentral für die Darstellung der Beziehung zu Gott, für geistliche Erfahrungen und die damit verbundene bzw. daraus resultierende Lebensweise der irdischen Pilgerschaft.

 

Das spirituell-pädagogische Itinerar

Bereits in der frühen Kirche wurde der Wüstenweg des wandernden Gottesvolkes mit seinen verschiedenen Etappen zwischen Ägypten und dem Einzug in das gelobte Land z. B. bei Origenes oder bei Gregor von Nyssa in seiner Vita Moysis mit der allegorischen Deutung der Gestalt des Mose als Vorbild des gesamten geistlichen Lebens für den einzelnen Christen spirituell gedeutet. Aus einer äußeren Beschreibung von Wegen, einer Reisebeschreibung mit Straßen-, Stations- und Unterkünfteübersicht, wie es das Itinerar in der Antike darstellt, wurde ein „Itinerarium mentis ad Deum“, ein Bekehrungs- und/oder Glaubensweg und damit ein Weg zu Gott unter dessen Begleitung und Führung.

Bekanntestes Beispiel in der Spiritualitätsgeschichte für ein solches geistlich- oder spirituell-pädagogisches Itinerar ist der 1259 entstandene Reisebericht des Geistes zu Gott, das Itinerarium mentis in Deum mit seinen sechs Aufstiegsstufen zur mystischen Vereinigung mit Gott, der unio mystica, des Franziskaner-Generalministers und Kardinals von Albano Bonaventura (1221–1274). Als weitere Beispiele, bei denen sich zu beschränken der heutige Rahmen vorgibt, möchte ich die Gebets- und Kontemplationsanleitung die siben strassen zu got (De septem itineribus aeternitatis) des Franziskaners Rudolf von Biberach (vor 1270–nach 1325) nennen, eine Verbindung der Weg-Symbolik mit der Aufstiegsmetapher, wurzelnd in der ikonografisch oft mit sieben Sprossen dargestellten Jakobsleiter. Auf diese Himmelsleiter aus Jakobs Traum (Gen 28,12) als Bild für den Aufstieg zu Gott bezieht sich bereits zuvor der Hl. Benedikt (um 480–547) in seiner Regel bei den zwölf Stufen der Demut (RB 7). Die Zahl Zwölf strukturiert hier den Weg der Nachfolge Christi bzw. der konkreten, aufeinander aufbauenden Schritte der Einübung in die Gesinnung Jesu, der Gottes- und Nächstenliebe – eine Verbindung zu Kirchgessners zwölf Wegmarken, auch wenn sich die inhaltlichen Schwerpunkte unterscheiden: Geht es bei Benedikt um die Befähigung, zur Gottes- und Nächstenliebe zu gelangen, steht bei Bernhard der Weg zur unio mystica im Fokus. Jan van Ruusbroec (1293–1381) schließlich greift auf die Metapher eines treppenartigen mystischen Aufstiegs zu Gott in seinem Werk Das Buch von den sieben Stufen auf der Treppe geistlicher Minne (Dat boec van den seven trappen in den graet der gheesteleker minnen) zurück und verbindet, wie Bernhard von Clairvaux, die Begrifflichkeiten von Mystik und Minne als Form der Liebe zu Gott, was sich damit auch bei Bernhard Kirchgessner findet.

Indem Kirchgessner den mittelalterlichen Zisterzienserabt mit seinen Erfahrungen in die Jetztzeit ver- und übersetzt und so als Begleiter für den heutigen Menschen anbietet, den Weg zu Gott in zwölf Wegmarken gliedert und die entsprechenden Stationen-Texte mit Abbildungen von Gemälden, Radierungen, Zeichnungen, Skulpturen usw. zur Illustrierung und meditierenden Vertiefung garniert, wird beGEISTert von GOTT zum pädagogisch-spirituellen Itinerar für die heutige Zeit. Und nicht nur das: Bernhard Kirchgessner vermittelt bei seinem unterhaltsam und gleichzeitig stets mit Tiefgang geschriebenen Itinerartext quasi am Rande des Weges sehr verständlich und komprimiert liturgisches (22, 30, 28 Anm. 14), biblisches (23 Anm. 15) kulturelles (23) sowie fundamentaltheologisches Grundwissen (49).

 

Anstelle eines Vorworts

Anstelle eines Vorworts wählt Kirchgessner einen von unbekannter Hand im 7./8. Jahrhundert verfassten Hymnus (vgl. Adolf Adam, Te Deum laudamus, Freiburg i. Br. 1987, 223) für die beiden Vespern zu Christi Himmelfahrt „Iesu, nostra redemptio“ in der deutschen Fassung des Stundenbuchs (Bd. 2, 473) „Jesus, du Quelle unsres Heils“, wobei auf die Übernahme der ursprünglichen vierten Strophe verzichtet wurde. Nicht nur durch die liturgische Verortung des Hymnus mit Himmelfahrt, sondern auch textlich stimmt dieser mit seinen zentralen Aussagen von Jesus nicht nur als Quelle unsres Heils, sondern auch der Liebe und Sehnsucht Ziel (1. Strophe), oder von Jesu Liebe, aus der er sich dem Tode auslieferte, um uns von diesem zu befreien (2. Strophe), oder dem Wunsch, Jesus sei u. a. unsres Lebens reicher Lohn und stille unser Sehen, wenn wir sein Antlitz [einst] ewig schauen (4. Strophe), auf die nachfolgenden zwölf Wegmarken hervorragend ein.

 

Die zwölf Wegmarken im Einzelnen

Jeder Weg, auch der geistliche, beginnt bekanntlich mit einem ersten Schritt. So fordert auch das erste Kapitel „Mache dich auf den Weg!“ – als erste Wegmarke – in Anlehnung an die „entschlossene Entschlossenheit“ der Hl. Theresa von Avila (11) eine „große und ganze Entschlossenheit“ (15), diesen Weg zu gehen. Auf diesem ist man aber nicht allein – im konkreten Fall begleitet durch Bernhard von Clairvaux aus dem Mund bzw. der Feder des (modernen) Bernhard von „Spectrum Kirche“ – so wie bei jedem Lebensweg, wenn das Leben bzw. der Alltag zur Sprache gebracht und versucht wird, alles im Spiegel des Evangeliums zu betrachten, wie bei den Emmaus-Jüngern der Herr selbst.

Ist die „Entschlossenheit“ als erste Wegmarke erreicht, indem innere Widerstände besiegt oder Halbherzigkeit überwunden wurden, geht es bei der zweiten darum, sich selbst zu erkennen. Dieser Weg führt, wie es schon der Freund Bernhards von Clairvaux, Isaac von Stella (um 1100–1178), auf den Punkt brachte, nach innen. Ein solcher ehrlicher Blick auf den Seelengrund ist erst einmal ernüchternd, wenn er die persönlichen Unzulänglichkeiten und Schwächen zum Vorschein bringt. Zugleich ist er aber auch heilsam, wird doch im selben Moment erkennbar, dass man trotz aller Fehler und Macken, trotz Angewiesenseins auf Hilfe und Barmherzigkeit ein einzigartiges, geliebtes Kind Gottes ist.

Mit dieser Erkenntnis bzw. deren Annahme erreicht man die dritte Wegmarke „Wisse, du bist von Gott bedingungslos angenommen, geliebt und bejaht.“ Ausgehend vom ersten, dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht sowie der zentralen Aussage bei der Erschaffung des Menschen am sechsten Tag: „Lass uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich“ (Gen 1,26), also dem Bewusstsein, dass der Mensch „in gewisser Weise Gott ähnlich ist“ (21), vermittelt der meisterliche Wegbegleiter dem suchenden Schüler diese „Auszeichnung“ (22), dass er „von Gott bedingungslos angenommen, bejaht und geliebt“ ist. Im Weiteren zeigt er ihm durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und der Aufforderung an Ezechiel, sich auf seine Füße zu stellen, weil Gott mit ihm reden will (Ez 2,1), den annehmenden, bejahenden und liebenden Gott – und damit eben nicht einen im fernen Göttergebirge entrückten, der den Menschen devot sehen möchte. Vielmehr darf der nach seinem Ebenbild geschaffene Mensch Gott vis-a-vis (vgl. 24) begegnen. Nun ist es aber die Natur des Menschen, seinen eigenen Willen über den Gottes zu stellen und sich so zu versündigen. Dadurch verliert der Mensch die Widerspiegelung der Schönheit Gottes. Der geistliche Weg bietet nun aber die Möglichkeit, dieses durch die Sünde entstellte Bild Gottes wieder zu erneuern. So lautet hier der Dreischritt: erschaffen – entstellt – erneuert.

Auch die vierte Wegmarke charakterisiert sich durch Entschlossenheit: Es geht darum, ernsthaft Gott zu suchen, aber es geht auch um die Bereitschaft, sich finden zu lassen. Bernhard nennt das „aktive Passivität“. Dies erstaunt auf den ersten Blick, steht doch die Begegnung mit Gott am Ziel des eingeschlagenen Weges und so käme bei diesem „Sich-finden-Lassen“ das Ziel einem selbst entgegen. Auf mögliche Beweggründe, sich nicht finden lassen zu wollen, gehen beide Bernhards in dem Buch nicht dezidiert ein. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es die Angst vor dem Unvollstellbaren, vor dem das Leben Umwälzenden ist, wenn Suchen und Gefunden-Werden zusammentreffen.

Kurz vor der Streckenhälfte erweist sich bei der fünften Wegmarke der Begleiter als Realist und äußert pädagogisch wertvoll: „Hab´ Geduld, es geht nur in Etappen!“ Das Erreichen des Wegziels braucht nicht nur seine Zeit. Es geht um das Erreichen der Etappen in Geduld, Schritt für Schritt und eben nicht zu schnell, damit der Fortschritt nachhaltig bleibt. Dies wird mit zwei bildhaften Erklärungen von Bernhard von Clairvaux veranschaulicht. Die erste adaptiert die dreigliedrige, aufbauende Wegdifferenzierung des namentlich nicht bekannten christlichen Autors Pseudo-Dionysius Areopagita aus dem 6. Jahrhundert von via purgativa, via illuminativa und via unitiva. Dieses durch Letzteren christlich umgedeutete Prinzip platonischen Ursprungs der Dreiheit aus dem Weg der Reinigung, Erleuchtung und Einigung (mit Gott) und damit auch der Erfahrungsstufen Anfänger, Fortgeschrittener und Vollkommener wurde in der Spiritualitätsgeschichte immer wieder, auch individuell adaptiert, aufgegriffen: so neben Bernhard von Clairvaux z. B. durch die zentralen deutschen Dominikanermystiker des Spätmittelalters Meister Eckhart (um 1260–1328), Johannes Tauler (um 1300–1361) und Heinrich Seuse (1295/96–1366). Dieses Prinzip hat auch Bernhard Kirchgessner am Ende seines Buches bei der zwölften Wegmarke äußerst verständlich und wunderbar auf den Punkt gebracht – für mich ein weiteres großes Plus seines Buches.

Vorerst aber zurück zur fünften Wegmarke und der ersten Erklärung des geistlichen Wegs, nämlich dem Weg der drei Küsse, der die dreiteilig aufbauende Wegdifferenzierung des Pseudo-Dionysius illustriert: der Kuss auf den Fuß des Herrn als Darstellung der Bekehrung (via purgativa), der Kuss auf die Hand des Herrn als das aus der Bekehrung gleichsam „erleuchtete“ Leben (via illuminativa) und schließlich der Kuss auf den Mund des Herrn als Bild für die Vereinigung (via unitiva).

Das zweite Erklärungsmodell für den etappenhaften Weg stellen Bernhards vier Stufen der Gottesliebe dar: Zuerst liebt der Mensch sich selbst (Selbstliebe). Dies wird gar nicht so egoistisch gesehen, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint, denn Selbstliebe ist zugleich die Voraussetzung, seinen Nächsten und Gott lieben zu können. Als zweite Stufe liebt der Mensch Gott um seiner (des Menschen) selbst willen, da er davon zu profitieren hofft. Hier klingt das gute alte „do ut des“-Prinzip an: Liebe in der Hoffnung oder Erwartung, eine Gegengabe oder einen Vorteil zu erhalten. Schreitet der Mensch als dritte Stufe geistlich weiter voran, beginnt er Gott um Gottes willen zu lieben, weil er spürt oder erfahren hat, dass Gott ihn vorbehaltlos liebt. Auf der vierten und letzten Stufe liebt der Mensch schließlich sich selbst nur noch um Gottes willen: Er ist in völliger Selbstvergessenheit mit Gott eins geworden, er ist ganz und gar von Gott durchdrungen. Das meint für die Mystiker das Wort des Apostels Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Galatien: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20) Auch wenn der begleitende Experte in Kirchgessners Buch die letzte Stufe schon einmal erreicht hat, so ist er doch Realist genug, um beschwichtigend einzuräumen, dass bereits die dritte Stufe, also die Gottesliebe um Gottes willen, ein hohes Ziel zu Lebzeiten ist bzw. das Verharren(-können) auf dieser. Die Selbstliebe um Gottes willen als die letzte Stufe erreichen nur wenige zu Lebzeiten, und dann auch nur für kurze Zeit. Permanent ist diese unio mystica erst nach der Auferstehung (40).

Die Mitte des geistlichen Weges (sechste Wegmarke) bildet die Aufforderung: „Folge der Sehnsucht!“ Hier bahnt sich Kirchgessners „Theologie der Sehnsucht“, die er seit einiger Zeit entwickelt und auch bei Vorträgen wie in der Reihe „Heute Gott erfahren“ darstellt, ihren Weg. Die Sehnsucht, so die These, ist der Motor, den Gott einem jeden Menschen ins Herz gepflanzt hat. Der heutige Mensch ist zudem nicht gott-los, sondern die Gottsuche in der heutigen Welt ist differenzierter, diffuser, subtiler (45). So vermag der moderne Mensch auch nicht immer recht in Worte zu fassen, wonach er sich sehnt. Seine Sehnsucht ist aber Ausdruck einer Suche nach dem Bleibenden, dem Gültigen, dem Unzerbrechlichen, dem Ewigen, dem Transzendenten.

Für den geistlichen Weg ist der Proviant wichtig. So mahnt die siebte Wegmarke: „Vergiss die Wegzehrung nicht!“ Hier ist gemeint, nicht nur für den Leib zu sorgen, sondern auch für Seele und Geist bzw. bei allen Anstrengungen stets darauf zu achten, dass die „Seele“ nicht auf der Strecke bleibt. Diese Seelen-Nahrung auf dem geistlichen Weg ist der Glaube. Den gilt es zu pflegen, ja sogar zur Grundeinstellung des Lebens zu machen (50), aus dem Glauben heraus zu leben. Glauben lässt die Glaubensinhalte besser verstehen und man glaubt, um die Glaubensinhalte auch erfahren zu können, wobei die größtmögliche Erfahrung die Gotteserfahrung ist (55).

All diesem menschlichen Streben kommt aber Gott zuvor. So stellt die achte Wegmarke die Erkenntnis oder vielleicht sogar schon Erfahrung des zuvorkommenden Gottes dar. Gottes Liebe geht allem voraus. Er ist der zuerst Handelnde bzw. zuerst Liebende. So lautet dieser Abschnitt: „Siehe, er kommt dir entgegen, ja zuvor!“

Dieser Liebe nachzuspüren, mit der Gott uns entgegenkommt (61), und durch eigenes Liebesbemühen darauf zu antworten, kennzeichnet die neunte Wegmarke. Dieses eigene Liebesbemühen ist damit verbunden, glaubwürdig zu leben, um selbst zum Zeugen zu werden, womit sich ein Kreis des Buches schließt.

Ausgehend vom zuvorkommenden Gott, von dem Gleichnis vom verlorenen Sohn und der Darstellung des Christus amplexus, des seine Arme vom Querbalken des Kreuzes lösenden und zur Umarmung entgegenbeugenden Christus, wie ihn auch das Vortragekreuz in „Spectrum Kirche“ zeigt, lautet die zehnte Wegmarke, mit der der geistliche Weg auf seine Zielgeraden einbiegt, sehr anschaulich: „Er erwartet Dich mit offenen Armen.“

In diesem Leben als Dauerzustand noch verwehrt, aber als Sehnsucht beständiger Lebensmotor ist die Gottesschau die elfte Wegmarke. Sie bleibt Wunsch bzw. ist höchstens in Einzelfällen, wie bereits gesagt, nur zum Teil und nur für sehr kurze Zeit möglich (vgl. 74).

Dauerhaft, womit der Weg am Ziel angekommen ist, vollzieht sich dieses Einswerden und Einssein mit Gott, die unio mystica, bei der zwölften Wegmarke. Hier erläutert Kirchgessner zuerst den Begriff der Mystik mit Rückgriff auf die Definition von Bonaventura „Cognitio dei quasi experimentalis“, „eine gleichsame erfahrungsmäßige Weise der Gotteserkenntnis“, ein „liebendes Erfasstsein von der dem sinnlichen Wahrnehmen ebenso wie dem rationalen Denken unzugänglichen göttlichen Wirklichkeit“ (H. Piesch, 79f.).

Im Anschluss, als Zusammenfassung des Weges, dessen zwölf Wegmarken nun betrachtet sind, wiederholt der Autor zum einen eine der die Hauptaussagen, dass Gott den ersten Schritt hin auf den Menschen macht. Zum anderen bringt er die bei der fünften Wegmarke bereits erwähnte, übergeordnete, dreistufig aufbauende Wegdifferenzierung des in der beständigen Hinwendung zum Herrn auf Gottes ersten Schritt antwortenden Menschen auf den Punkt (81ff.):

·      die via purgativa – den Weg der Reinigung als bewusstes Leben, bei dem sich bisherige Rang- und Werteordnungen relativieren und neue Prioritäten in der Ergriffenheit von und durch Gott entstehen,

·      die via illuminativa – den Weg der Erleuchtung, also die bereits benannte aktive Passivität in dem Sinn, sich bei seiner Suche nach Gott auch von ihm finden und in den Dienst nehmen zu lassen,

·      und die via unitiva – den Weg der Einigung, der eben in der unio mystica gipfelt.

 

Ein spirituell-pädagogisches Itinerar für heute, das begeistert

Gott zu erfahren, ist allein von uns aus nicht machbar. Aber es ist möglich, Wegmarken zu setzen, sodass diese Erfahrung möglich wird. Wie Wegmarken gestaltet sein können, gerade in der heutigen Zeit, zeigt Bernhard Kirchgessner mit seiner Schrift beGEISTert von GOTT sehr anschaulich und gut nachvollziehbar. Dabei wird ganz deutlich, dass der Weg zu Gott Überwindung kostet, man eingetretene Pfade verlassen muss, um auf einen neuen Weg zu kommen, der dann auch nicht automatisch gerade, sondern mitunter in Serpentinen verläuft und so das Ganze nicht immer zu einem Sonntagsspaziergang geraten lässt – und gerade das macht das Buch realistisch und ehrlich. Ebenso, dass hier keine Wundersiebenmeilenstiefel versprochen werden, die unbeirrbar zu Gott führen. Auch wenn ich mir am Ende der Lektüre – vielleicht auch nur in der Erfahrung meines persönlichen geistlichen Weges – noch eine Hilfestellung zum geistlichen Stillstand oder sogar Rückschritt in dem bei allem Realismus doch sehr zielgerichteten Itinerar gewünscht hätte, liegt hier ein sehr gelungener und lesenswerter Beitrag zu einer heutigen lebendigen spirituellen Lebensweise vor, der mich begeistert hat: beGEISTert von GOTT lädt dazu ein, sich auf den geistlichen Weg zu machen, verhilft zur individuellen Richtungs- und Verortungsorientierung und trägt dazu bei, sensibler für die eigenen Wegmarken zu werden.

Marius Schwemmer

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