Den umarmenden Gott in konkreten und alltäglichen Lebenswirklichkeiten erfahrbar machen
Dokumentation eines Interviews
Bild: Privat
Zum Jahreswechsel 2024/25 hat die Bischöfliche Pressestelle Passau um ein (schriftliches) Interview zu dem Buch Kulturdiakonie. Chancen für eine Kirche von morgen (Würzburg 2024) angefragt.
Nachdem dieses Interview - ohne Angabe von Gründen - nicht erschienen ist, dokumentiere ich Fragen und Antworten in diesem Blog-Eintrag.
Informationen zum Buch selbst finden sich HIER, eine Rezension HIER.
Herr Schwemmer, Ihr jüngst erschienenes Buch handelt über die „Kulturdiakonie“ und wie diese zu einer Chance für die Kirche von morgen werden kann. Was hat Sie dazu bewogen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und ein Buch dazu herauszugeben?
Das erste Mal bin ich dem Begriff „Kulturdiakonie“ in der katholisch.de-Meldung „Katholische Kirche größter Kulturträger neben dem Staat“ 2004 begegnen. Der Autor Jakob Johannes Koch hat sie mit dem Satz eröffnet: „Das kulturelle Wirken der katholischen Kirche setzt der durchökonomisierten Kulturindustrie der kühlen Rechner eine menschenfreundliche Kulturdiakonie [...] des Übernützlichen entgegen“. Als Ziel und oberstes Kriterium dieses Kulturkonzepts benennt er das „ganzheitlich ‚gute Leben‘“. Das hat mich sehr angesprochen: die Chancen von Kunst, Musik (und hier besonders Kirchenmusik und Geistliche Musik) zu sehen und auszuloten, um damit im Leben der Menschen das Evangelium, die frohe, frohmachende Botschaft hörbar zu machen. Diesen Begriff „KulturDiakonie“, seine Chancen und Konsequenzen wollte ich – bei allem terminologischen Ringen – auch zu meiner Zeit als Präsident des Allgemeinen Cäcilienverbands für Deutschland als einen Hauptschwerpunkten setzen. Aber v. a. durch die Herausforderungen der Corona-Pandemie mit ihrer Auswirkungen auf die Kirchenmusik hat dies nun erst mit dem vorliegenden Buch eine Form gefunden.
Wie würden Sie „Kulturdiakonie“ beschreiben?
Die Autoren des Buches, allen voran Stefan Klöckner, thematisieren mit großer Schärfe und Tiefgründigkeit die Spannung zwischen „Kultur“ und „Diakonie“ sowie die Herausforderungen des Begriffs „Kulturdiakonie“. Auf Grundlage der Definition des Kulturbegriffs von Hans-Joachim Höhn bedeutet es für mich, mit Kunst in all ihren Ausdrucksformen – als Manifestation menschlicher Kreativität und Charismen – in einem liebenden und wertschätzenden Blick auf den Nächsten als (Mit-)Geschöpf Gottes einen Raum für die Begegnung mit Gott zu öffnen. Ziel ist es, ein Umfeld zu gestalten, in dem der Glaube gelebt und zum Ausdruck gebracht werden kann – auch in Form von Fragen. Das bedeutet, durch Kunst dabei zu helfen, die Wirklichkeit zu deuten und dem, was den Menschen heute bewegt – von Freude bis hin zu Leid – eine Ausdrucksmöglichkeit zu geben. Dazu gehört auch, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Begegnung mit Gott nicht auf den Kirchenraum beschränkt ist, sondern überall geschehen kann – und dies heutzutage vermehrt!
Warum ist Ihrer Ansicht nach ein Umdenken, eine Rückkehr der Kirche in die (Kultur-)Diakonie nötig?
Zuerst wegen des spannungsvollen Verhältnisses von Theologie, Kunst und Lebenswirklichkeit unserer Zeit. Diese Spannung darf jedoch nicht einseitig aufgelöst werden; vielmehr gilt es, aus ihr positive Impulse für die Gegenwart zu gewinnen. Mein Anliegen ist es – ganz im Sinne des Untertitels des Buches –, „Kulturdiakonie“ als Chance zu begreifen, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und zu verstehen versuchen.
Darüber hinaus fördert eine entsprechende Beschäftigung mit „Kulturdiakonie“ die Begegnung zwischen den autonomen Partnern Kirche und Kunst auf Augenhöhe. Dabei darf Kunst kirchlicherseits nicht religiös instrumentalisiert oder als vermeintliches Allheilmittel für spezifisch kirchliche Herausforderungen missverstanden werden. Vielmehr geht es um ein gemeinsames, aber eigenständiges Reflektieren der Herausforderungen, Widersprüche und nicht zuletzt der tragischen Seiten des Lebens – also um das Aus-Leben der vielen Fragen der heutigen Zeit. Dies schließt ein ehrliches Ringen bei Differenzen in aller Freiheit und ohne Polemik mit ein.
Wo sehen Sie Chancen, vor allem für die Kirche von morgen?
Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vom November 2023 ergab, dass nur etwa ein Viertel der Konfessionslosen an Gott oder ein höheres Wesen glaubt. Damit widerlegt sie weitgehend die bislang vertretene These, dass individuelle Religiosität auch bei abnehmender sozialer Bedeutung der Institution Kirche bestehen bleibt („Christlicher Glaube ja, Kirche nein“).
Gleichzeitig erleben wir z. B. in Spectrum Kirche – was Bernhard Kirchgessner in seinem Beitrag so treffend beschreibt – bei den „boomenden“ Kunstveranstaltungen Menschen, die von einer tiefen Sehnsucht angetrieben werden, welche sie oft gar nicht selbst in Worte fassen können. Im Austausch über Malerei, Plastiken, Lyrik und Mystik zeigt sich diese Sehnsucht als eine „Sehnsucht nach dem Wahren, Bleibenden und Transzendenten“.
Bereits 2018 schrieb der evangelische Theologe Peter Scherle unter dem Titel „Werte liefern, das können andere auch“ in der FAZ: „Wir brauchen eine Theologie der Krise, die in der Brüchigkeit der menschlichen Erkenntnis […] jenem Wehen des Heiligen Geistes lauscht, das uns erkennen und sagen lässt, wie uns Gott fehlt. Denn anders werden wir den Gottesglauben nicht mehr zur Sprache bringen können“. Ludger Verst griff diesen Gedanken kürzlich auf katholisch.de auf und argumentierte, dass aus der Krise nur eine menschenzugewandte, diakonische Kirche führe – als Gegenentwurf zu einer Kirche, die Gott in der Welt verlässlich und herrschaftlich repräsentieren will, was jedoch nicht möglich ist.
Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang lautet: Soll die Kirche ein Ort der Glaubensindoktrination sein oder werden oder vielmehr ein Kultur- und Gemeinschaftsort, der den Hunger nach Gott weckt?
Die Verbindung von Kunst und Kirche ist jedoch nicht nur eine Chance für eine menschenzugewandte Kirche von Morgen, sondern auch eine existenzielle Notwendigkeit für die Kirche als Institution selbst. Dies bringt Burkhard Rosenzweig, langjähriger Rektor des Würzburger Exerzitienhauses Himmelspforten, treffend auf den Punkt: „Eine Kirche, die nicht den verschiedenen Künsten Raum gibt, ist gleichermaßen arm an Strahlkraft wie eine Kirche, die keine dem Reflexionsniveau der Zeit entsprechende Theologie fördert und pflegt. Sie verkommt zu einer organisierten Religionshülse oder nimmt sektenhafte Züge an.“
Kultur und Diakonie – zwei Begriffe, die nicht automatisch im Einklang miteinander stehen. Meint es also, die Kirche solle sich an die heutige moderne Zeit anpassen? Oder eher: als Gegenüber agieren?
Der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald sagte kürzlich in einem Interview mit DIE ZEIT / Christ & Welt, dass er eine „skeptische Distanz zum Zeitgeist und eine gewisse Zögerlichkeit, wenn Modernisierungen gefordert werden“, durchaus sympathisch finde. Problematisch werde es jedoch, „wenn es vom Zögerlichen in die Totalverweigerung geht. Dieser Kampf wird ja gerade in der Kirche ausgefochten.“
Ich möchte diese skeptische Distanz als Auftrag zur immerwährenden spirituellen Reflexion verstehen – als einen beständigen und niemals vorschnell abgeschlossenen Prozess der Unterscheidung. Hierfür gilt es, die Zeichen der Zeit zu verstehen, anzunehmen und die Welt von heute mit unserer Lebenswirklichkeit und allen Herausforderungen nicht von vorneherein zu verteufeln.
Was haben Sie persönlich aus dem Buch mitgenommen?
Zunächst habe ich vor allem die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und den persönlichen Beitrag der Autoren aus dem Buch mitgenommen. Darüber hinaus war es für mich bereichernd, die Entwicklung des Begriffs der Kulturdiakonie bei Ludwig Mödl nachzuvollziehen und mich persönlich mit ihm darüber auszutauschen.
Ein besonderer Gewinn war für mich zudem die Definition von Kultur durch Hans-Joachim Höhn als den „Inbegriff der geschichtlichen Ausformungen des Sinnmediums einer Gesellschaft“. Besonders eindrucksvoll fand ich dabei die Verbindung von Religion, Kunst und Wissenschaft als „Instrumente der Deutung der Wirklichkeit“.
Eine weitere zentrale Bereicherung war schließlich das eindrucksvolle Bild des Jesuiten Willi Lambert: „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“. Mit den Worten von Franz Berzbach bedeutet dies für mich ein Hinabsteigen in die Arbeitskeller des Elfenbeinturms. Die Betrachtung der Gegenwart in einer Hermeneutik des Wohlwollens entzieht jeder Wagenburgmentalität, jedem Verschanzen in künstlerisch elitären oder dogmatisch ausgrenzenden Elfenbeintürmen die Grundlage. So leben wir auch den Auftrag, der für mich als Diakon wichtig ist: dass in konkreten und alltäglichen Lebenswirklichkeiten der umarmende Gott erfahrbar wird.